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Ich bin Frau Historia, grammatikalisch weiblich. Ich wohne im Heimatmuseum. Ich befinde mich gerade im Sommer des Jahres 1835. Meine heutige Wohnung war damals das Rathaus. Schräg über die Straße steht das Schulhaus (heute Hotel „Östringer Hof“). Im Erdgeschoss wohnen die Lehrerfamilie Battlehner und die des Unterlehrers. Im Obergeschoss befinden sich die Schulräume. Ich betrete das Haus.

Die Haushälterin Amerie spült das Geschirr. Frau Philippina räumt es auf. Ihr Mann Johannes Baptist blättert am Tisch in Papieren. „Das wird wieder eine Prozedur werden, bis die Rechnung von der Gemeinde bezahlt ist. Maurer Bernhard Hoffmann stellt für das Loch zur Belüftung des Schulraumes sechs Gulden in Rechnung.“
„Baptist, das werden die Gemeinderäte doch einsehen, dass diese Arbeit notwendig war. Bis zu 100 Schüler unterrichtest du in einem Schulsaal. Die Buben stinken nach Stall und furzen, wo sie geh’n und steh’n. Dass du das überhaupt aushältst“.

Der Lehrer hüstelte. Er vermied es schleimlösend aufzuhusten. Das tat in der Brust weh. „Nach dem neuen Schulgesetz darf ein Lehrer nur noch 120 Kinder unterrichten. Wir haben zur Zeit über 400 Kinder. Da brauchen wir einen zweiten Unterlehrer und einen weiteren Schulraum. Der hintere, in dem die ersten und zweiten Klassen unterrichtet werden, ist feucht und ungesund. Das ganze Jahre fällt kein Sonnenstrahl hinein.“
Philippina betrachtete ihren blassen kränkelnden Mann sorgenvoll.
Ganz gegen ihre bescheidene Art mischte sich Amerie in das Gespräch ein: “Herr Hauptlehrer, Ihr habt der Gemeinde schon viele Ausgaben erspart. Ihr reinigt den Kamin, repariert den gemauerten Backofen, bessert die Fenster aus und weißelt die Zimmer. Die morsche Stalltür musstet ihr unbedingt vom Schreiner ersetzen lassen.“
„Schon gut Amerie.“
Er wandte sich wieder seiner Frau zu: „Meinen Vorschlag, im Rathaus ein Lehrzimmer einzurichten, hat das Amt abgelehnt. Stell dir vor, der Bürgermeister Ehrhardt will dem Unterlehrer eine Klasse in die Wohnstube setzen.“
„Das werden sie dem Franz und seiner Frau doch nicht antun“, empörte sich Philippina
Amarie ging heim, wo in ihrer eigenen Familie viel Arbeit auf sie wartete.

Philippina setzte sich zu ihrem Mann und seufzte: „Sie ist eine gute Seele. Weißt du noch, als wir unsere Malchen bekamen, - Gott hab sie selig - , da war sie auch gerade mit dem Wendel nieder gekommen. Sie stillte auch unseren Engel, weil ich keine Milch für die Kleine hatte, Unser süßes Mädchen wurde nie ganz gesund. Tag und nacht hustete das Kind, hatte Fieber und schließlich brachte sie der grüne Schimmel in der Ecke des Kinderzimmers um. Im Dezember wird es schon drei Jahre, dass sie aufgehimmelt ist.“.

Baptist nahm seine Frau in den Arm, als ihr Augen feucht glänzten. „Lass gut sein Pina. In einer Woche ist Östringer Markt. Da kaufen wir den Kindern was zum Anziehen. 50 Gulden erhielt ich nach dem Bericht des Schuldekans bei der letzten Visitation als Geschenk für meine gute Arbeit . Unser Pfarrer Kieser ist begeistert von meinen schulischen Ergebnissen. Er ist auch mit meinem Mesner- und Organistendienst zufrieden.“
Er fuhr fort: „ In seinem Bericht verpflichtet der Schuldekan die Gemeinde, endlich für ausreichenden geeigneten Schulraum zu sorgen. Sogar von einem Neubau ist die Rede. Aber die Gemeinde wehrt sich mit Händen und Füßen, weil sie kein Geld hat.“
„Deine Erfolge wären noch viel besser, wenn die Eltern ihre Kinder regelmäßig zur Schule schicken würden“, ermuntert Philippina ihren Gatten.
“In dem evangelischen Eichtersheim gehen die Kinder auch im Sommer drei Tage zur Schule. In Östringen haben die Schüler nach einem halben Jahr das meiste wieder vergessen und ich brauche Wochen bis ich die verwilderten Buben und Mädchen wieder in der Reihe habe.“

„Baptist, sei doch nicht so ungeduldig. Die Leute mögen uns. Beim Schlachten und zu den Festtagen beschenken sie uns von dem wenigen, das sie haben. Unsere Nachbarn Bruni und Erhardt lassen uns in ihren Läden anschreiben, wenn dein Gehalt nicht ausreicht. Deine Schüler achten dich, weil du ihnen die Welt erklärst. Ich höre von hier unten wie die Schüler begeistert mitmachen, wenn du Vogelstimmen nachahmst, und sie dürfen den dazu passenden Vogel erraten.“

Baptist blickte seine Frau liebevoll an und sagte: „Ich muss mich jetzt ausruhen bis die Kinder heimkommen.“ Er zog seine Schuhe aus und legte sich bekleidet auf das Bett.

Johannes Baptist Battlehner rieb sich nach dem Mittagsschlaf die Augen und schlüpfte in seine Schuhe. Er hörte seine Buben die Treppe herauf stürmen. Ferdinand stieß die Haustür als erster auf, hinter ihm schoben sich Sigmund und Heinrich durch die Tür. „Wie schaut ihr denn aus?“, rief Mutter Philippina und schlug die Hände vors Gesicht. Der elfjährige Ferdinand strahlte sie an und hielt ihr ein zappelndes Getier vor die Nase. „Schaut Mutter, ich habe im Freibach einen Krebs gefangen!“ Der neunjährige Heinrich drückte sich an die Wand, um die Dreiangel in seiner kurzen Hose zu verbergen. „Sigmund, konntest du nicht auf die beiden aufpassen. Die sind ja klitschnass.“ Barfuß standen die Abenteurer mit triefenden Kleidern vor der Mutter. „Ihr tragt Namen berühmter deutscher Kaiser. So sehen also meine kleinen Kaiser aus“, vernahmen die drei Vaters leise aber feste Stimme. „Und jetzt raus in den Hof. Wascht euch am Brunnen ab. Danach übt Klavier. Der Sigmund zuerst..“

Dem Vater gefielen die Jungen mit ihrer grenzenlosen Neugierde. Er nahm sie, sooft er konnte, mit auf die Spaziergänge. Sie bestürmten ihn mit tausend Fragen, die er geduldig beantwortete. Was die Frösche beim Quaken rufen und wo die riesige Eiche das Holz für ihren dicken Stamm und die Äste hernimmt, wollten sie wissen.

Der Sigmund war im April schon 14. Im September wird er in Bruchsal das Gymnasium besuchen. Dem Ferdinand kann die Mutter nichts abschlagen. Er hat so sanfte Augen und ein gewinnendes Lächeln. Die Mädchen finden ihn süß. Heinrich ist nicht das leibliche Kind des Lehrerehepaares. Seine Mutter Margarethe von Mercy , eine Sängerin aus Heidelberg, gab den hübschen Jungen im Frühjahr 1827 als Säugling zur Pflege ins Östringer Lehrerhaus. Der französische Einschlag von seiner Mutter und der dunkle Teint verliehen ihm etwas Exotischen inmitten der Dorfkinder.

Die Battlehners waren eine musikalische Familie. Alle Kinder lernten das Klavier spielen.
An Fastnacht kamen Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarorten. Philippina backte stundenlang Fastnachtsküchle im heißen Fett. Korbweise standen sie im dekorierten Schulsaal, wenn Vater zum Tanz aufspielte. Die Kinder führten allerhand Lustiges zum Ergötzen der Feiernden auf. Besonders beliebt war das Singen im Quartett in phantasievollen Kostümen.

Als Industrielehrerin aus der Stadt leitete Philippina die elfjährigen Mädchen in der Mädchenschule neben dem Rathaus in der Keltergasse, (dem Gasthaus „Zur Blume“) zum Nähen, Stricken, Häkeln und Spinnen an. Die Schülerinnen der Oberklasse nähten Hemden, Kleidungsstücke und Bettzeug, flickten, stopften und strickten Hauben, Kappen und Handschuhe oder stickten Buchstaben in die Wäschestücke.
Sie spitzten die Ohren, wenn die Lehrerin vom Leben der besseren Leute in der Stadt erzählte. „Die Leute sagen bitte und danke, wohnen in mehrstöckigen Häusern und viele haben ein Bad mit Klo im Haus.“. „Bei uns steht der Potschamber unter dem Bett und das Aborthäusle neben dem Misthaufen“, platzte die aufgeweckte Marie ungefragt heraus. „Erzählen sie uns - bitte - mehr vom Leben der feinen Leute in der Stadt“, flehte sie neugierig. Mit ihren Erzählungen und durch ihr Erscheinungsbild weckte die Lehrerin aus der Stadt Träume und Sehnsüchte der Vierzehnjährigen nach einem Leben anders als ihre Mütter es führten. Die Fünfzigjährige stammte aus gutem Hause. Ihr Vater war Oberschaffner, heute würde man sagen Verwaltungsdirektor der Hospitäler in Heidelsheim und Bretten. Sie kannte das Stadtleben in Karlsruhe, wo der Großherzog residierte. Hier unterrichtete sie und lernte ihren Mann kennen.

Auf dem Weg zurück zu meiner Wohnung im Heimatmuseum rief ich mir ins Gedächtnis, was aus den einzelnen Mitgliedern der Familie Battlehner geworden war.

Ein Leben lang erinnerte sich Philippina gern an die glückliche Zeit der ersten Ehejahre in Östringen. Bis zu ihrem Tod besuchte sie mit den Kindern und Enkeln die befreundete Familie Erhardt und die treue Amerie, mit deren Geißen die Kinder so gern herumgetollt waren. Mit 45 Jahren verstarb ihr geliebter Baptist an seinem Lungenleiden. Sie zog zu ihrer Schwester nach Rastatt, wo Ferdinand als Klassenbester schon nach vier Jahren im Lyceum das Abitur bestand. Er studierte in Heidelberg Medizin, wurde Arzt und Referent für Gesundheit im Innenministerium, Sigmund begann eine Kaufmannslehre in Bruchsal und wurde ein erfolgreicher Unternehmer. Heinrich Mercy arbeitete als Buchhändler in Prag, Wien und Verona, war böhmischer Abgeordneter und Vorsteher der österreich- ungarischen Buchhändlervereinigung. Es ist doch erstaunlich, was aus den drei Östringer Buben geworden ist. (Frau Historia)